Gefangener der Zeugen Jehovas: Interview mit einem Aussteiger

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Nimrod, der unter seinem bürgerlichen Namen nicht genannt werden möchte verbrachte seine gesamte Jugend gemeinsam mit seinen Eltern und zwei älteren Schwestern in der christlichen Sekte der Zeugen Jehovas, bis er im Erwachsenenalter den Entschluss zum Ausstieg und der Abkehr zur Religionsgemeinschaft fasste. Bis dahin bestimmte die Sekte bereits seit über 20 Jahren sein Leben – eine Zeit, die bis heute an ihm nicht spurlos vorübergegangen ist. Uns gab er die Möglichkeit für einen Einblick in seinen damaligen Alltag, um zu verstehen was es für ihn bedeutete als Jugendlicher im Kreise der Zeugen Jehovas aufzuwachsen.

Heute spreche ich mit einem der interessantesten Interviewpartner seit Langem: Dem 45 Jahre alten Nimrod aus Schleswig Holstein. Seine Eltern konvertierten in den 60er Jahren zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, der seine zwei älteren Schwestern, deren Familien und seine eigenen Eltern bis heute angehören. Er selbst fasste den Entschluss zum Austritt im Jahre 1993.


Mothersdirt: Wenn du an deine Kindheit bei den Zeugen Jehovas zurückblickst, welche Erinnerung hat dich bis heute am stärksten geprägt?

Ich glaube, es gibt da nicht DIE Erinnerung, die mich am stärksten geprägt hat. Natürlich erinnere ich mich daran, als kleines Kind, abends in den Zusammenkünften im Königreichssaal müde und unruhig auf dem Stuhl hin und her gerutscht zu sein, bis mich mein Vater an den Haaren in einen Nebenraum geschliffen hat. Dort wurden die Kinder sozusagen zur Ruhe gezüchtigt.
Ich erinnere mich auch an Geburtstage oder Weihnachtsfeiern in den ersten Schuljahren, an denen man als Zeuge Jehovas nicht teilnehmen durfte. Man gewöhnte sich früh daran „anders“ zu sein.

Als Einschlaflektüre lasen mir meine Eltern vor dem Zubettgehen biblische Geschichten vor. Am interessantesten waren da natürlich die alttestamentarischen Horrorgeschichten von einem brutalen Gott, der seine Widersacher ohne Gnade vernichtete. Es wurde immer wieder betont, dass die Vernichtung und die Dämonen das waren, was mich und alle anderen erwartete, wenn man sich vom Glauben abwand. So wurde ich von frühester Kindheit geschult.

Ich glaube, es ist das Gesamtpaket der Erinnerungen und Erlebnisse in frühester Kindheit, die mich geprägt haben.
Was aber als starke Erinnerung immer wieder zurückkommt, ist die Anspannung und Angst vor dem Vater, der damals als einer der Ältesten in der Versammlung eingesetzt war und einen Gummiriemen als Rute der Zucht missbrauchte. Angst vor Dämonen, Angst vor Vernichtung, Angst vor Sünde, Angst vor Bestrafung. Ich denke das Leben in ständiger Angst und Unsicherheit als Kind haben mein späteres Leben sehr geprägt. Ich wurde sozusagen auch nach dem Bruch mit den Zeugen von meinem Gewissen gejagt.

„Es wurde immer wieder betont, dass die Vernichtung und die Dämonen das waren, was mich und alle anderen erwartete, wenn man sich vom Glauben abwand.“

-Nimrod


Mothersdirt: Der körperliche und geistige Missbrauch besonders bei sehr jungen Menschen bleibt meist der Öffentlichkeit nicht gänzlich verborgen. Wie war dein Verhältnis zu Gleichaltrigen außerhalb der Zeugen Jehovas und war dir der Umgang mit nicht Gläubigen überhaupt gestattet?

Aus meiner Erfahrung macht sich die breite Öffentlichkeit nicht viele Gedanken über die Zeugen Jehovas. Natürlich gibt es bei den Meisten irgendeine Vorstellung oder Vorurteile, die in der Regel nicht viel mit der Realität zu tun haben. Es wird schnell verurteilt, ohne nach Tatsachen zu forschen oder sich Gedanken über die einzelnen Schicksale der Menschen innerhalb dieser Organisation zu machen. So wurde mir in der Schule weiß gemacht, Zeugen Jehovas hätten keinen Fernseher und auch keine Türen im Haus. Doch… das haben sie!
Das liegt wohl in der Natur des Menschen, dem Unbekannten noch etwas Geheimnisumwobenes zuzudichten.

Was mein Verhältnis zu Gleichaltrigen betrifft, so kam ich in der Schulzeit ganz gut mit ihnen klar.
Der Umgang mit Menschen außerhalb der Organisation wird trotzdem, wenn möglich auf ein Nötigstes beschränkt. Schule, Arbeit… das war`s in der Regel. Vereinsmitgliedschaften und private Aktivitäten mit „Weltmenschen“ sind nicht gerne gesehen, Besuche von Diskotheken waren zu meiner Zeit Tabu und „weltliche Musik“ wurde oft dämonisiert. Auch hatten weder meine Schwestern noch ich je ein Poster aus der BRAVO an der Wand, da dies nach Ansicht der Zeugen, hauptsächlich aber meines Vaters, Personenkult darstellen würde und man keine Ideale außer Gott oder Jesus haben sollte.


Mothersdirt: Du beschreibst deinen Vater als aggressive und beherrschende Person in der Familie. Wurden die Verbote allein von deinem Vater, oder auch von deiner Mutter ausgesprochen? Wie würdest du das Verhältnis zwischen euch Kinder und den beiden Elternteilen beschreiben?

Ich denke, man muss zwischen den Regeln, die der Vater als Person durchsetzte und den Regeln, die von der Organisation der Zeugen Jehovas aufgestellt wurden, differenzieren. Die religiösen Regeln galten für alle und wurden sowohl vom Vater als auch von der Mutter durchgesetzt. Die Strenge des Vaters fehlte allerdings bei unserer Mutter.

Das Verhältnis zwischen uns drei Geschwistern war etwas schwierig, da meine Schwestern sieben und neun Jahre älter sind als ich. Meine älteste Schwester verließ mit 17 das Haus. Da war ich acht Jahre alt. Meine andere Schwester ging zwei Jahre später auch im Alter von 17. Beide heirateten sehr früh. Es fehlte irgendwie immer die Herzlichkeit oder der Zusammenhalt, den man innerhalb einer Familie und zwischen Geschwistern vielleicht erwartet. Jeder kämpfte seinen eigenen Kampf.
Auch zwischen unseren Eltern war soweit ich mich erinnern kann nie ein herzliches Verhältnis. Mein Vater war ein Tyrann und so behandelte er nicht nur uns Kinder sondern auch seine Frau.

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Schnappschuss einer vermeintlich sorglosen Kindheit.


Mothersdirt: Würdest du die Spannungen innerhalb der Familie auf den Einfluss der Lehren der Zeugen Jehovas zurückführen? Oder ist es davon klar trennbar?

Die Spannungen, die innerhalb unserer Familie auftraten waren zum großen Teil dem Leben innerhalb dieser Organisation geschuldet. Natürlich trug die individuelle Art unseres Vaters gewisse Dinge umzusetzen ihren Teil dazu bei. Insofern sind die Spannungen nicht klar trennbar. Aber im Großen und Ganzen ist unsere Familie dem dogmatischen Irrglauben der Zeugen zum Opfer gefallen. Eine zerstörte Familie und zerstörte Persönlichkeiten im zweifelhaften Auftrag des Herrn.


Mothersdirt: Wenn du heute vom Irrglauben der Zeugen sprichst, wie waren deine Gedanken zur Lehre als Kind und Jugendlicher? Warst du überzeugter Anhänger, oder gab es auch größere Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung?

Als Kind und selbst noch als Jugendlicher habe ich nie die Lehre der Zeugen in Frage gestellt. Wenn ich etwas in Frage gestellt habe, dann eher meine eigene Kraft, diesen Glauben auszuüben. Ich fühlte mich oft zu schwach, sündhaft, unwürdig.
Ich war definitiv überzeugter Anhänger und für mich war diese Lehre keine Auslegung, sondern DIE Wahrheit und als solche bezeichnen die Zeugen ihren Glauben nach wie vor. „DIE WAHRHEIT“, neben Theokratie, Weltmenschen, Überrest, usw. etwas, was zum Sondervokabular der Zeugen Jehovas gehört.


Mothersdirt: Wenn du für dich die Lehre der Zeugen als „DIE WAHRHEIT“ angenommen hast und es für dich daran keinen Zweifel gab, wie und wann kam dir der Gedanke trotzdem auszusteigen?

Es war kein plötzlicher Gedanke, es war eher ein Prozess, der schleichend begann. Es fing auch nicht damit an, dass ich die Lehren in Frage stellte, sondern dass ich mich selbst immer weniger in der Lage sah, diese Lehren befolgen zu können. Am Anfang plagte mich mein Gewissen, dann wurde es für mich mehr und mehr ein praktiziertes Doppelleben. Irgendwann endete es dann im Chaos. Ich ging nicht mehr von Haus zu Haus und immer weniger in die Zusammenkünfte. Je mehr ich mich geistig entfernte, desto mehr wuchs gleichzeitig der Druck von Familie und Organisation. In einer Nacht- und Nebelaktion packte ich meine Sachen und verschwand einfach aus der vertrauten Umgebung. Zu diesem Zeitpunkt fehlte mir der Mut und die Kraft meine Entscheidung bei den Zeugen und meiner Familie öffentlich zu offenbaren. Ich verschwand sozusagen spurlos, hatte lediglich die nötigsten Dinge und Papiere im Gepäck. Anfangs kam ich bei den wenigen Bekannten unter, die ich außerhalb der Organisation hatte. Ich kämpfte mich zurück ins Leben ohne zu wissen, wer ich eigentlich bin, woran ich glaubte, was die Zukunft bringt und ob ich eine Chance habe.
Das, was ich hier in kurzer Form beschreibe, war ein langer Prozess, der irgendwann im Teenageralter begann und sein Finale in meinem 23. Lebensjahr hatte. Selbst die ersten Jahre nach den Zeugen konnte ich an der Lehre an sich nichts Falsches erkennen. Ich verteufelte lediglich die Menschen, die diese praktizierten. Erst mit sehr viel Abstand begann sich mein Geist neu zu orientieren und gleichzeitig meine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.

„Ich kämpfte mich zurück ins Leben ohne zu wissen, wer ich eigentlich bin, woran ich glaubte, was die Zukunft bringt und ob ich eine Chance habe.“

-Nimrod


Mothersdirt: Hier und da hört man von ähnlichen Fällen wie deiner Geschichte und dem Druck, die willige Aussteiger erfahren. In welcher Form und Weise wurde auf dich vor deinem fluchtartigen Verschwinden Druck vonseiten der Familie und Organisation ausgeübt? Welche zu erwartende Konsequenzen hatten dich damals zur Flucht verleitet?

Wie schon beschrieben ist es zum großen Teil ein passiver Druck, dem man alleine schon durch sein von Kindheitstagen geschultes Gewissen ausgesetzt ist. Ein Druck, der sich bei jedem Fehltritt in Form von reuigen Gedanken meldet. Das Ergebnis einer über die Jahrzehnte perfektionierten Gehirnwäsche.
Eine andere Art von Druck ist natürlich auch die Beobachtung von Glaubensbrüdern und Schwestern, die jedes Schaf, das ihrer Meinung nach vom rechten Pfad abkommt bei der Ältestenschaft melden.
Es wird beobachtet, ob man regelmäßig die Zusammenkünfte besucht, sich aktiv daran beteiligt und gut vorbereitet hat, ob man seiner Pflicht der Verkündigung nachkommt und wie eng der Kontakt zu Menschen außerhalb der Organisation ist.

Für Kinder, die in diese Organisation geboren wurden, kommt natürlich noch die Erwartungshaltung der Eltern dazu, sich niemals vom „wahren Glauben“ abzuwenden.
Es ist also der Druck des eigenen Gewissens, der Respekt vor den Ältesten und die Angst zu enttäuschen – abgesehen von der Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, die dich auf der anderen Seite erwarten. Insgesamt für viele Zeugen eine zu große Last, um sich endgültig von der Gemeinschaft trennen zu können.

„Die Flucht“ war sozusagen mein persönlicher Weg hinaus, um zumindest den eingehenden Gesprächen mit Ältesten und Eltern aus dem Weg zu gehen. So gab es für mich keine Argumente, die mich zurückhalten konnten, keine Vorwürfe und Angstmacherei, keinen zornigen Vater dem ich entgegentreten musste und keine weinende Mutter, die ich beruhigen musste. Immerhin haben meine Eltern zu diesem Zeitpunkt aus ihrer Sicht ihr Kind verloren.
Vielleicht wird dieser Weg von Außenstehenden als feige betrachtet, aber über 2 Jahrzehnte fremdgesteuertes Leben machen dich unsicher und labil.
Ich musste erst einmal selbst einen klaren Gedanken fassen, sehen wo ich stehe, Kraft tanken, die Füße auf die Erde bekommen.

Ich habe schon früh mitbekommen, welche katastrophalen Auswirkungen ein Gemeinschaftsentzug innerhalb einer Familie der Zeugen Jehovas haben kann.
Meine älteste Schwester brachte im Alter von ca. 17 Jahren einen Mann mit nach Hause. Er war kein Zeuge und fast 20 Jahre älter als sie. Ihr wurde aufgrund von vorehelichem Geschlechtsverkehr die Gemeinschaft entzogen und sie flog von zu Hause raus. Meine Eltern durften keinen Kontakt mehr zu ihr haben.
Mein Vater drehte durch und war nicht mehr ansprechbar, meine Mutter weinte sich durch die Nächte und ich versuchte irgendwie die Stellung zu halten und meinen Eltern nicht zusätzlichen Kummer zu bereiten.

Ich möchte hier noch einmal schildern, welche Auswirkungen für einen Zeugen der Gemeinschaftsentzug eines Glaubensbruders hat. Der Betreffende darf weder gegrüßt noch darf mit ihm gesprochen werden. Jeglicher Kontakt ist untersagt. Dieser Mensch ist der Vernichtung geweiht. Die einzige Möglichkeit für ihn ist Reue. Auch bei nahen Verwandten werden hier keine Ausnahmen gemacht.

Ich muss dazu sagen, dass meine Schwester irgendwann ihren „Fehltritt“ bereute und sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Ihr Mann nahm kurze Zeit später ebenfalls diesen Glauben an und sie sind bis heute verheiratet und haben mittlerweile fünf gemeinsame Kinder, die auch alle in diesem Glauben erzogen wurden, bzw. werden.


Mothersdirt: Im Hinblick auf drohende Konsequenzen hast du die Flucht nach vorne angetreten und deine gewohnte Umgebung verlassen. Wie lange warst du danach nicht auffindbar und wie wurde nach dir gesucht?

Ich war ca. drei Monate in der Versenkung verschwunden. Meine Eltern haben natürlich zunächst versucht, mich über Bekannte zu erreichen oder haben Orte aufgesucht, an denen sie mich vermuteten. Später wurde sogar die Polizei informiert.
Ich habe das alles von einem damaligen Weggefährten erfahren, dessen Eltern ebenfalls bei den Zeugen waren. Als ich davon erfuhr, meldete ich mich zunächst telefonisch bei meiner Familie.

Ich muss dazu sagen, dass ich vor meiner sogenannten Flucht ins Leben, Briefe sowohl für die Familie als auch für die Ältestenschaft der Zeugen abschickte.
Ich habe also darüber informiert, dass es nicht mein Ziel war mir mein Leben zu nehmen, sondern mein Leben zu finden.


Mothersdirt: Normalerweise zählt das Verschwinden des eigenen Kindes zum Schlimmsten, dass sich Eltern vorstellen können und eine Anzeige bei der Polizei erscheint dahingehend für die meisten als logischer Schritt. Welchem Umstand ist es schlussendlich zu verdanken gewesen, dass du wieder nach Hause zurückgekehrt bist und wie reagierte deine Familie und die Ältestenschaft darauf?

Zum einen war ich zu diesem Zeitpunkt fast 23 Jahre alt und wohnte nichtmehr bei meinen Eltern. Wie die meisten Zeugen Jehovas habe ich früh geheiratet. Da eine Beziehung zu einem Menschen des anderen Geschlechts in dieser Organisation ohne Heirat nicht wirklich möglich war/ist entscheiden sich viele junge Zeugen früh für diesen Schritt. Ich war gerade 19 Jahre alt.

Zum anderen hatte ich wie schon gesagt Briefe geschrieben, die meinen „Ausbruch“ erklären sollten. Einen Brief an die Ältesten der Versammlung, in dem ich meinen Austritt erklärte und auch meine Beweggründe offenbarte und einen Brief für meine Familie, mit der Bitte nicht nach mir zu suchen.
Ein Zurück in mein altes Leben gab es von diesem Zeitpunkt nicht mehr und ich habe diesen Schritt auch nie bereut.


Mothersdirt: Wie entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren deine Beziehung zu deinen Eltern? Gab es auch nach dem Brief an die Ältestenschaft noch irgendwelche Versuche dich in die Organisation zurückzuholen?

Das persönliche Verhältnis zu meinen Eltern und der Familie im Allgemeinen war von diesem Zeitpunkt an gebrochen. Lediglich zu meiner Mutter hatte ich in unregelmäßigen Abständen noch Kontakt. Da Zeugen Jehovas jedoch keinen Umgang mit Ausgeschlossenen pflegen dürfen, wurde dieser auch immer weniger.
Anfangs versuchte meine Mutter mich immer wieder  durch Gespräche zur „Umkehr“ zu bewegen. Sie gab mir auch immer mal wieder Zeitschriften oder Bücher der Zeugen mit.

Mit 25 Jahren änderte ich meinen Nachnamen, um zum einen mit der Vergangenheit abzuschließen und zum anderen nicht mehr ohne weiteres auffindbar zu sein. Ein weiterer Grund war der Spruch meines Vaters, „er hätte keinen Sohn mehr“.

Es gab von Seiten der Ältestenschaft später zwei Versuche mich zurück in die Organisation zu holen. Sie klingelten irgendwann unerwartet an der Haustür und baten um ein Gespräch. Ich konnte ihnen aber relativ schnell meinen mittlerweile gefestigten Standpunkt klar machen.


Mothersdirt: Seit deinem erfolgreichen Ausstieg sind mittlerweile viele Jahre vergangen und du konntest den geistigen wie auch körperlichen Missbrauch scheinbar gut verarbeiten. Gibt es trotzdem Spuren der seelischen Verletzung, die bis heute in deinem täglichen Leben nachwirken? Wenn ja, welche?

Natürlich haben die Jahre Spuren hinterlassen.
Jeder ist irgendwie das, was aus ihm gemacht wurde. Jeder ist als Kind sowohl von den Eltern als auch von den Umständen, in denen er aufgewachsen ist, geprägt worden. Dazu kommen die jeweilige genetische Veranlagung und natürlich ein wenig das, was man selbst aus seinem Leben macht.
Aus dieser Mischung wird dann wohl das, was man schlechthin als Persönlichkeit bezeichnet.

Auch meine Persönlichkeit wurde geprägt. Ich habe Eigenschaften geerbt, vieles in mir wurde kaputt gemacht, ich wurde in Ansichten hineingezwungen…
Ich weiß nicht, wer ich geworden wäre, wenn ich bei anderen Eltern, in einem anderen Land und unter anderen Umständen groß geworden wäre.

Ich habe nach der Zeit bei den Zeugen keine Freundschaften pflegen können, ich fühle mich bis heute in Gruppen nicht wohl und lasse Menschen meist nicht sehr nahe an mich heran, ich bin in vielen Dingen sehr emotionslos geworden, ich kann weder Trauer noch Freude richtig fühlen. Eines der Gefühle, die ausgeprägt sind, ist Wut. Ich habe lange in meiner eigenen Welt gelebt und noch immer Probleme, diese Welt mit anderen Menschen zu teilen. Ich habe viele Jahre unter Depressionen gelitten, ohne für mich einordnen zu können, dass es welche sind. Fehlende Lebensfreude, mangelnde Motivation und ständige Müdigkeit gehörten lange zu meinem Alltag. Nach zwei gescheiterten Ehen und drei Kindern zu denen kaum, bis gar kein Kontakt besteht, habe ich vor ein paar Jahren den Entschluss gefasst mich zu befreien und für mich zu kämpfen.
Ich habe eine Partnerin, die mir gut tut, ich arbeite an mir, unserem gemeinsamen Kind ein besserer Vater zu sein und ich habe mich vor ca. einem Jahr in psychosomatische Behandlung begeben. Zusätzlich habe ich nach über 20 Jahren im letzten Jahr Kontakt zu einigen Menschen meiner Familie aufgenommen und versucht etwas Vergangenheit aufzuarbeiten.

Es geht bergauf.

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Der Ausstieg aus der Sekte markierte den Anfang vom Ende. 20 Jahre später kämpft Nimrod noch immer, um die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit aufzuarbeiten und diese Vergangenheit endlich hinter sich lassen zu können.


Mothersdirt: Obwohl du bereits im noch jungen Alter einen der ersten realistischen Möglichkeiten zum Ausstieg nutzte, war zu diesem Zeitpunkt deine Jugend bereits zerstört und die weitere Zukunft vorgeprägt. Welchen Rat würdest du aus heutiger Sicht einem jungen Erwachsenen mitgeben, der trotz möglicher Konsequenzen selbst ernsthaft mit dem Gedanken spielt aus der Gemeinschaft auszutreten?

Da ich weiß, wie schwer es ist den Schritt aus dieser Organisation zu gehen, insbesondere bei Menschen, die in diese hineingeboren wurden, ist es nicht leicht einen Rat zu geben, der pauschal eine Lösung bietet.
Wer mit dem Gedanken spielt, diese Gemeinschaft zu verlassen, muss sich der Konsequenzen bewusst sein und bereit sein, damit zu leben.
Letztendlich sollte aber jeder auf sein Herz hören, und wenn das Gefühl dir sagt, dass der Weg der Zeugen Jehovas nicht deiner ist, dann sollte man auch bereit sein, für sein Leben zu kämpfen.

Es gibt viele Hilfestellungen, die man in solch einem Fall auch in Anspruch nehmen sollte.
Einfache Dinge wie Sportvereine, Hobbys, Internetforen oder vielleicht alte Schulfreunde können behilflich sein, erste Kontakte nach außen zu knüpfen. Wichtig ist, nicht das Gefühl zu haben nach der Zeit als Zeuge alleine zu sein. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit eine Therapie in Anspruch zu nehmen, aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Gespräche und Erfahrungsaustausch mit anderen ausgeschlossenen Zeugen könnten ebenfalls eine Hilfe sein, sich über seine eigenen Beweggründe im Klaren zu werden.

„Wer mit dem Gedanken spielt, diese Gemeinschaft zu verlassen, muss sich der Konsequenzen bewusst sein und bereit sein, damit zu leben.“

-Nimrod

Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, wie schwer man sich tun kann, sein vertrautes Leben hinter sich zu lassen. Aber wie heißt es in einem alten Seefahrerspruch: „Man kann keine neuen Ufer entdecken, hat man nicht den Mut die Küste aus den Augen zu verlieren.“
Und jeder der diesen Mut hat, wird irgendwann feststellen, dass es sich gelohnt hat zu kämpfen und dass dieses Leben so viel mehr zu bieten hat als wöchentliche Versammlungen, dem Studium von Publikationen, die von alten religiösen Heuchlern herausgegeben werden und dem ständigen Druck, irgendwelchen Regeln nicht gerecht werden zu können.
Kämpfe um dein Leben, kämpfe für dich selbst. Es lohnt sich.

…..und in 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du nicht getan hast, als über die Dinge, die du getan hast. Also löse die Knoten, laufe aus dem sicheren Hafen. Erfasse den Wind mit deinen Segeln. Erforsche…Träume.


Mothersdirt: Nimrod, herzlichen Dank für das interessante Gespräch und all die detaillierten Eindrücke aus deiner Kindheit bei den Zeugen Jehovas.

Für all jene, die selbst an einen Ausstieg denken oder sich mit diesem Thema noch etwas genauer beschäftigen möchten, gibt es am Ende des Beitrages noch einige Links zu Erzählungen von Ehemaligen, Adressen von Beratungsstellen sowie allgemeine Informationen und Hilfestellungen zum Ausstieg bei den Zeugen Jehovas.


Weiterführende Links:

Quellenangaben:
Alle Rechte zum Umfang und Inhalt des Artikels, sowie den Abbildungen bleiben bei den Verfassern – im Besonderen bei der Person hinter dem Pseudonym Nimrod. Das Titelbild ist hiervon ausdrücklich ausgenommen.

Titelbild: https://pixabay.com/de/depression-deprimiert-forlorn-1252577/https://commons.wikimedia.org/wiki/File:JW_ORG_logo.jpghttps://encrypted-tbn3.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcRVk74KnrOFxzjOuddWAP1y4f5V9f5sYbSfLgLUrv7za8xDE7hehttps://pixabay.com/de/dunkel-fenster-leuchten-licht-1309884/ (14.02.2017, 13:59) – Mann sitzt auf einem Sessel im dunklen Raum. Daneben blutendes JW.ORG-Logo (Bild wurde mit Photoshop erstellt).

 

Nimrod_Jugend.jpg (15.02.2017, 00:09) – Schnappschuss aus der Jugend von Nimrod. Aus privatem Archiv. Vielen Dank an „Nimrod“.
Nimrod_aktuell.jpg (15.02.2017, 00:11) – Aktuelles Foto von Nimrod mit Kapuze und einer Zigarette rauchend. Aus privatem Archiv. Vielen Dank an „Nimrod“.
 

Kindesmissbrauch im Namen Jehovas

kindesmissbrauchÖffentlich prangern sie die katholische Kirche an, Fälle von sexuellem Missbrauch zu vertuschen. Bei ihnen, den Zeugen Jehovas – auch als JW.org oftmals bezeichnet, finden diese Verbrechen nicht statt. Um dieses Märchen aufrecht zu erhalten, versuchen sie mit allen Mitteln jegliche Zweifel an eine freie und friedliche Glaubensbewegung zu unterbinden. Eine Religionsgemeinschaft, die finanziellen Reichtum und Ansehen in der Welt über das Wohl der Mitglieder stellt.

Die Zeugen Jehovas sind den Meisten als von Haus-zu-Haus pilgernde Missionare bekannt, um den Ungläubigen das Wort Jehovas zu übermitteln. Das strenge Regelwerk, dass in ihrem Glauben für jede Situation des Alltagslebens eine Lösung bietet, beruht auf der „Neue-Welt Übersetzung“ der Bibel. Im Gegensatz zu vielen anderen Religionsgemeinschaften findet eine starke Trennung im Umgang zwischen Gläubigen und Ungläubigen statt, die sich neben privaten Kontakten auch auf Arbeits- oder Schulkollegen ausdehnt. In dieser für Außenstehende verborgenen Parallelgesellschaft wurden einer staatlichen Untersuchung in Australien zufolge seit 1950 mehr als 1.000 Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft des Kindesmissbrauchs beschuldigt. Und kein einziger Fall wurde je der Polizei gemeldet. Anstatt die Rechtsprechung in staatliche Hand zu übergeben zog man es vor, diese Vorfälle innerhalb der Gemeinschaft durch Kirchenälteste und deren Gesetzbuch „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“ zu lösen. Eine ganze Reihe an Kindesmissbrauchsermittlungen in den Kreisen der katholischen Kirche, sowie anderer Konfessionen, sorgen neben Europa auch in Australien seit mehreren Jahren für blankes Entsetzen.

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So sind sie uns alle bekannt: Für den Glauben opfern sie einen Großteil ihrer Freizeit. Aber nicht unbedingt freillig, wird doch von jedem Mitglied erwartet der Religionsgemenschaft bestmöglich zu dienen – vor allem finanziell!

Eines dieser Opfer, dass bei der Anhörung nur unter dem Synonym BCG auftreten wollte, erzählte der dort anwesenden Gerichtskommission, wie sie im Alter von 17 Jahren vom eigenen Vater, einem hohen Mitglied der Vereinigung sexuell missbraucht wurde. Auch ihre drei jüngeren, unmündigen Schwestern wurden zu Opfern. Obwohl andere Erwachsene von den Missbräuchen wussten, dauerte es sechs Jahre und drei Gerichtsverhandlungen, bis der Täter zur Rechenschaft gezogen wurde. Im Glauben der Zeugen Jehovas kann alleine das Gebet zu Jehova dazu führen, dass der Peiniger von einem ablässt. Diese Doktrin gab ihr die nötige Kraft, aber auch Angst über eine so lange Zeit zu schweigen.

„Ich betete immer zu Jehova, dass er Engel um mein Bett positioniert, die mich vor meinem Vater beschützen. Er half mir aber nicht und mein Vater machte immer weiter.“

– Aussage von BCG im Zeugenstand

Mittlerweile ist BCG 44 Jahre alt und verbrachte den Großteil ihrer Jugendjahre in Angst gegen ihren Vater auszusagen. Von der Gemeinschaft auszutreten und sich somit dem Peiniger zu entziehen, kam für sie nicht in Frage, da ihr seit der Kindheit eingebläut wurde, dass Gott jeden verlässt, der ihm nicht gehorcht. Außerdem sind alle nicht Gläubigen Sünder und der Kontakt mit ihnen ist nach Möglichkeit zu meiden – engste Familienmitglieder mit eingeschlossen. Schließlich vertraute sich BCG den Kirchenältesten an, der sie nach den Regeln der Zeugen Jehovas dazu aufforderte ihren Vater mit diesen Anschuldigungen zu konfrontieren. Der eigene Vater bedrohte sie daraufhin und behauptete von ihr verführt worden zu sein. Ihrem Peiniger gegenüber zu stehen verstärkte das Leid nur. Sie wurde daraufhin angewiesen, ihren Vater zu respektieren und niemandem von diesem Gespräch zu erzählen.

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Schläge im Namen des Herrn machen aus den Opfern schweigsame Individuen, die letztlich alles über sich ergehen lassen, bis der Missbrauch zur Routine wird.

Ein besonders aufsehenerregender Fall ereignete sich vor einigen Jahren um ein 26-jähriges Missbrauchsopfer in Kalifornien, dem schlussendlich eine Entschädigung von umgerechnet 25 Millionen Euro zugesprochen wurde. Diese Frau wurde zwischen den Jahren 1994 und 1995 im Alter von neun und zehn Jahren von einem Mitglied der Zeugen Jehovas sexuell missbraucht. Im Verfahren gegen ihren Peiniger Jonathan Kendrick gab sie zu Protokoll, dass es für die Ältesten der Zeugen Jehovas eine 1989 verfasste Richtlinie gebe, wie mit den Opfern und Tätern zu verfahren sei. Die Absicht dahinter ist nicht dem Wohle der Opfer untergeordnet, sondern die Fälle intern zu klären und nach außen hin geheim zu halten. Jim McCabe, Anwalt der Vereinigung bestreitet diesen Vorwurf. Seiner Aussage nach halten die Zeugen Jehovas Kindesmissbrauch genauso ungesetzlich wie der Rest der Welt und er bestreitet, dass ein Dokument existiere, das gegen diese Auffassung spreche. Bill Bowen, ein sogenannter Ehemaliger der Zeugen Jehovas sieht dies ganz anders. Seinen Quellen zufolge ist die Organisation im Besitz einer Liste mit fast 24.000 erfassten Namen mutmaßlicher Kinderschänder aus den eigenen Reihen. In diesem Register werden alle intern gemeldeten Vorkommnisse aufgelistet und unter Verschluss gehalten. Zum Wohle der Organisation natürlich!

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Nicht selten werden der Missbrauch sowie der Schutz der Kinder zum Thema in den hauseigenen Publikationen. Die Ratschläge richten sich beinahe immer auf die Gefahr außerhalb der Organisation, während die Verbrechen in den eigenen Reihen ignoriert werden.

Die Gründe, die zu Folge haben, dass Verbrechen in den eigenen Reihen der Zeugen Jehovas nicht gesühnt werden, liegen unter anderen am Bestreben unbeteiligte Glaubensbrüder und -Schwestern nicht mit negativen Einflüssen zu belasten. Kein Wunder also, dass innerhalb der Organisation das Problem des Kindesmissbrauchs durch meist hochrangige Mitglieder offiziell nicht existiert. Um die Täter innerhalb der Gemeinschaft zur Rechenschaft zu ziehen, anstatt diese der weltlichen Exekutive zu übergeben, stellt das „Gesetzbuch“ mit dem Titel „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“ einen Riegel vor jede weitere juristische Handlung. Dieses „Lehrbuch der Königreichsdienstschule“ wird jedem Ältesten bei Antritt seines Dienstes ausgehändigt und erst bei Amtsniederlegung wieder zurückgegeben. Die Gesetzestexte, die der Auslegung der Jehova-Bibel entsprechen sind Weisungen, wie mit Konflikten aller Art innerhalb der Gemeinschaft zu verfahren ist. Allen anderen Mitgliedern ist es verboten in diesem Buch zu lesen oder gar zu besitzen, obwohl es in unserem Zeitalter der Digitalisierung jederzeit und für jeden zur Verfügung steht.

Im Abschnitt „Teil 5c“ des Buches wird unter dem Titel „Missetat mit Weißheit und Barmherzigkeit behandeln“ genau geregelt, wie man im Falle eines Kindesmissbrauchs zu handeln hat. Der übergeordnete Grundsatz entstammt einer Bibelpassage aus dem Buch Matthäus:

„Wenn aber dein Bruder sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein! wenn er auf dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht hört, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit aus zweier oder dreier Zeugen Mund jede Sache bestätigt werde!“

– aus dem Buch Matthäus 18:15-17

In der Auslegung der Zeugen Jehovas sollte das Opfer den ersten Schritt machen, um die „Angelegenheit“ zu bereinigen. Älteste können ihn dazu ermuntern. Erst danach sollten eine oder zwei weitere Personen hinzugezogen werden, um mit dem Opfer zu reden.

Heute weiß man, dass es sowohl bei den Missbrauchsfällen der katholischen Kirche, wie auch der Zeugen Jehovas oftmals Mitwisser gab, aber fast immer eine Meldung nach außen hin ausblieb. Stattdessen vergingen oftmals viele Jahre des fast täglichen sexuellen Missbrauchs, bis sich die Opfer trotz Scham- und Angstgefühlen jemanden anvertrauten.

Jetzt könnte man zumindest denken, dass spätestens nach dem Gespräch zwischen dem Opfer und einem Geistlichen, beziehungsweise die um Rat hinzugezogenen Personen dem Missbrauchsopfer geholfen wird. Doch weit gefehlt! Laut Ältestenlehrbuch sollte es sich…

„…vorzugsweise um Zeugen der vorgeworfenen Missetat handeln oder um geachtete Brüder – in der Regel Älteste – , die das Beweismaterial untersuchen und Rat erteilen, wie die Angelegenheit bereinigt werden kann.“

– Zitat aus dem Buch „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“

In der Praxis wird man bei sexuellem Missbrauch nur selten einen oder gar zwei unabhängige Zeugen finden. Ganz zu schweigen von Beweisen. Im Text der Zeugen Jehovas heißt es zwar, dass im Falle von Beweismangel, in dem kein Komitee gebildet werden kann, zwei Älteste die Angelegenheit überprüfen sollten, aber das Hauptproblem bleibt die Beweisbarkeit.

„Das Komitee sollte erst dann gegen jemanden vorgehen, wenn das Beweismaterial eindeutig für die Notwendigkeit spricht.“

– Zitat aus dem Buch „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“

Und als Beweismaterial gilt:

„Es muß zwei oder drei Augenzeugen geben, nicht nur Personen, die das wiedergeben, was sie gehört haben; gibt es nur einen Zeugen, kann nichts unternommen werden (5. Mo. 19:15; Joh. 8:17).“

– Zitat aus dem Buch „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“

Sollte das Komitee aus welchen Gründen auch immer dem Opfer tatsächlich glauben und den Peiniger verurteilen, kann dieser bei echter Reue (im Sinne des biblischen Glaubens) sogar gänzlich straffrei ausgehen. Ganz unabhängig von der Schwere des Verbrechens. Ansonsten wird der Beschuldigte von der Gemeinschaft verbannt. Dieser Urteilsspruch gilt bei den Zeugen Jehovas als Höchststrafe, als von Gott Jehova getrennt und kann nach einer gewissen Zeit der Sühne auch wieder zurückgenommen werden. Ein weltlicher Anspruch auf Gerechtligkeit ist für das Opfer in der Gerichtbarkeit der Zeugen Jehovas nicht vorgesehen. Um auch weiterhin Fälle von Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen intern klären zu dürfen, beruft sich die Organisation in den USA auf den ersten Verfassungszusatz. Sie nutzen dabei das in der Verfassung zugesprochene Recht der freien Glaubensausübung, um Informationen zu Sexualstraftätern nicht den Behörden übergeben zu müssen. Konkret wird der Vereinigung vorgeworfen, dass seit über 25 Jahren Anweisungen von höchster Stelle ausgegeben wurden, wie intern mit Sexualstraftätern umzugehen ist und wie diese Informationen den Behörden systematisch vorenthalten werden sollen. Nur die Führung der Zeugen Jehovas darf entscheiden, ob eine Person mit einer Vergangenheit als Kinderschänder auch als Sexualstraftäter einzustufen ist. Sie bilden damit in gewisser Weise einen Parallelstaat mit eigener Justiz.
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Die Zentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn, New York. Von hier aus werden mehr als acht Millionen Mitglieder geleitet.

Rundschreiben, die seit 1989 an Älteste geschickt wurden und auch von der Zentrale im New Yorker Stadtteil Brooklyn, dem Watchtower abgesegnet wurden, führten zu mehreren besonders tragischen Fällen, in denen Kinder über Jahre hinweg von den selben Personen regelmäßig sexuell missbraucht wurden. Beobachtern zufolge werten einige Älteste ihr Recht auf freie Glaubensausübung höher als das Wohl des Kindes, obwohl die Führung betont, stets mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Der interne Umgang mit den Tätern zeigt hier ein klar anderes Bild: Selbst nach diversen Gerichtsprozessen und Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe zeigt ein internes Rundschreiben, dass sich bis heute nicht viel geändert hat und die Täter unter dem Deckmantel der Religion noch immer vor echten Konsequenzen geschützt werden.
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Im Umgang mit Opfer und Täter hat sich seither wenig geändert.

Ob in Europa ein ähnliches Vorgehen gilt, ist aus meiner Sicht derzeit nicht zu beurteilen. Jedoch betont die JW.org in ihren zahlreichen Publikationen, dass es sich als „weltweite Einheit“ versteht, die auf gleiche Werte aufbaut.

Wo siehst du die Gefahren der Zeugen Jehovas? Welche Erfahrungen machtest du bisher mit dieser Religionsgemeinschaft oder kennst du selbst jemanden, der Mitglied bei den Zeugen Jehovas ist beziehungsweise war? Die Verknüpfung zwischen Glaube und Religion ist aktueller den je. Sei es die Diskussion um die Vollverschleierung in Verbindung mit Frauenrechten im Islam oder die Vorkommnisse in diversen katholischen Kinderheimen. Wie weit darf Religion gehen und wo sind die Grenzen? Wie kann man zukünftige Generationen Kinder und Jugendlicher vor kriminellen Machenschaften im Namen der Religion schützen? Freue mich wie immer auf eure zahlreichen Antworten! Bis dahin verbleiben wir wie immer auf Facebook oder hier in den Kommentaren!

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Weiterführende Links:

Quellenangaben:
Titelbild: https://pixabay.com/de/kind-missbrauch-angst-stop-1152327/ (24.09.2016, 16:52) – Kind mit Teddybär.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zeugen_Jehovas#/media/File:Evangeliza%C3%A7%C3%A3o.jpg (24.09.2016, 16:53) – Mitglieder der Zeugen Jehovas bei der Missionierung.
http://www.gesellschaft.dergloeckel.eu/2011/01/halleluja-top-secret-der-missbrauch-von-kindern-bei-den-zeugen-jehovas/ (24.09.2016, 16:55) – Zwei Ausschnitte aus einer Zeitschrift der Zeugen Jehovas zum Thema „Die Rute der Zucht“.
http://www.gesellschaft.dergloeckel.eu/2011/01/halleluja-top-secret-der-missbrauch-von-kindern-bei-den-zeugen-jehovas/ (24.09.2016, 16:57) – Zwei Titelblätter der Zeitschrift „Erwachet!“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zeugen_Jehovas#/media/File:Watchtower_Bible_%26_Tract_Society_(world_headquarters).jpg (24.09.2016, 20:36) – Zentrale der Zeugen Jehovas.